Man darf sich von den bunten Farben und den großäugigen Figuren des Künstlerduos Kerascoët nicht täuschen lassen: “Jenseits” mag zwar ein Märchen sein, aber es ist ein Märchen der ganz alten Schule. Der Schrecken ist untrennbar mit der Geschichte verwoben und vieles von dem, was passiert ist unerklärlich und gerade deswegen besonders grauenhaft.

Im Zentrum der Geschichte steht Aurora, sie mag vielleicht eine Art von Fee sein (oder etwas ganz anderes), die eines Tages gezwungen wird aus ihrer Wohnstätte zu fliehen, als diese zusammenbricht. Wie sich herausstellt, lebte sie in einem Mädchen, dass nun tot auf einem Waldboden liegt und all jene Kreaturen, die bisher ein Teil von ihr waren, sind nun obdachlos.

Es ist eine merkwürdige Schar an kleinen Gestalten, die sich dort zusammenfindet: Aurora, der edle Hektor, die mutige Jane, die eitle Zelie, der naive Plim und viele weitere. Verloren in einer Welt, die sie nicht wirklich verstehen, erkennen sie weder die Gefahr, die von Vögel ausgeht, die sie fressen wollen, noch sind sie sich dessen bewußt, was sie sich gegenseitig antun. Wie Kinder sind sie naiv, niedlich und grausam zugleich und nur wenige überleben die überall lauernden Bedrohungen des Waldes.

Aurora versucht ihr Bestes den Anderen zu helfen und sie zu unterstützen, doch der von ihr bewunderte Hektor stellt sich – trotz seiner heldenhaften Posen – als nutzlos heraus und die von Aurora bewunderte Jane macht sich lieber alleine davon. Als Zelie ihr auch noch Hektor ausspannt, verhärtet sich auch Auroras Herz.

Wie sich im Deutschen Titel “Jenseits” bereits andeutet spielt die Graphic Novel mit den Themen von Tod und Kindheit. Der Französische Originaltitel “Jolies Tenèbres” (in etwa: “Niedliche Finsternis”) passt noch ein bißchen besser, denn die Finsternis ist vor allem jene in den Herzen ihrer Figuren, ihre Unwissenheit und ihre arglose Grausamkeit, die sich offenbart nachdem sie ihr bisheriges Leben verloren haben. Es scheint offensichtlich die kleinen Gestalten als Teile einer Kinderseele zu betrachten, aber wie alle guten Märchen gibt es viele Möglichkeiten zur Interpretation. Man kann darin ebenso eine Meditation über einen langsamen Sterbeprozess erkennen, wie auch eine Metapher für eine dysfunktionale Gesellschaft oder Flucht und Vertreibung.

Auf jeder Seite ist dabei erkennbar, dass es Marie Pommepuy, ein Teil des Duos Kerascoët, war, deren Idee die Initialzündung für diese Comic gab. Denn es lebt von seinen Bilder. Im Aquarellstil gehalten sind die Seiten farbenfroh, die Figuren stark stilisiert und erinnern sehr an Illustrationen in Kinderbüchern. Vielfach nimmt Szenarist Vehlmann sich ganz zurück läßt die atmosphärischen Bilder in den sich verändernden Jahreszeiten für sich sprechen.

Gerade diese Form von Zurückhaltung zeichnet “Jenseits” aus: Vieles bleibt bewußt im Unklaren, manche Zusammenhänge kann man sich nur vage zusammenreimen und das Grauen spielt sich vielfach (aber nicht ausschließlich) außerhalb des Bildes ab. Das Layout und die grafische Gestaltung sind ebenfalls zurückgenommen und lenken die Geschichte subtil.

Nicht nur in Deutschland ist “Jenseits” von der Kritik vielfach gelobt worden, auch in Frankreich war es ein Erfolg, so dass Kerascoët und Vehlmann mit “Satanie” eine weitere Zusammenarbeit vorgelegt haben. Es ist zu hoffen, dass in Deutschland sich Reprodukt auch dieser Graphic Novel annehmen wird.

Fabien Vehlmann & Kerascoët
Jenseits
Aus dem Französischen von Kai Wilksen, Lettering von Dirk Rehm
Reprodukt
ISBN 978-3-95640-082-7